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Mittwoch, 15. Juni 2011

Kleinode deutschsprachiger Musik (7): Fredy Sieg - Das Lied von der Krummen Lanke (1923)

1 Kommentar :
In einer losen Serie stelle ich Werke vor, die vordergründig eines gemeinsam haben: Sie wurden in deutscher Sprache verfasst. Das alleine ist natürlich keinerlei Qualitätskriterium. Nein, mich interessiert ein kreativer Umgang mit selbiger.

Fredy Sieg
Die Krumme Lanke ist ein schöner, durchaus idyllischer See in der Nähe meiner ehemaligen Uni, wo ich beliebe mich des Öfteren aufzuhalten an sommerlichen Sonnentagen. Es gibt betrunkene Jugendliche, viele Nackte, Familien, Hunde, und ja, auch Liebende. Natürlich hätte es auch jeder andere See sein können, doch der Bezug auf jenen schönen Ort im sehr westlichen Berlin stellt für mich eine zusätzliche Nähe zum Text her. An lauen Spätsommertagen kann die Szenerie auch beinahe einhundert Jahre nach der Veröffentlichung gut nachvollzogen werden. Zugegeben, das Lied hat nur bedingt mit dem See zu tun, doch es würde mir sicherlich etwas weniger zusagen, wenn es beispielsweise an einem nordrhein-westfälischen Baggersee verortet wäre.

Veröffentlicht zu Schellack-Zeiten, ist dieses Lied mit seinen stolzen sechs Minuten eigentlich zu lang für eine Platte. Es musste geteilt werden, sodass die auflegende Person seinerzeit nach ein paar Strophen genötigt war die Schellackplatte umzudrehen. Je nach Grammophonmodell kann das dauern, wenn beispielsweise die Nadel gewechselt und/oder der Antrieb angekurbelt werden muss. Die hier verlinkte Aufnahme stammt sicherlich nicht von der Erstveröffentlichung, sondern wurde wahrscheinlich um die 15 bis 25 Jahre später aufgenommen. Zu hören sind allerdings selbst für jene Zeit erstaunlich liebevoll und kreativ eingearbeitete Effekte, welche den kabarettistischen Charakter des Liedes ganz wunderbar unterstreichen.

Die Entstehungsgeschichte dieses Werkes kenne ich nicht, aber Fredy Sieg hat mit ein paar netten Einfällen bezüglich der Wortspielereien rund um 'krumm' und 'Banke' einen äußerst stimmigen, gekonnt pointierten Beziehungsverlauf dargestellt. Zwei Personen lernen sich kennen, kommen sich näher, zeugen ein Kind, heiraten, streiten sich, und lassen sich scheiden - das alles wird in acht Strophen abgehandelt. Der berlinerisch schnoddrige Vortrag unterstreicht den an vielen Stellen recht unprätentiösen Text auf eine Weise, welche die ohnehin schon wenig subtilen Andeutungen noch mehr in den Vordergrund rückt. Auffällig ist, wie zum Beispiel auch schon beim Text des sieben Jahre später veröffentlichten 'Wochenend und Sonnenschein' von den Comedian Harmonists, der recht offene Umgang mit außerehelichem Sex und die offene Kritik an kirchlichen Moralvorstellungen. Wir haben es immerhin mit Sex beim ersten Date zu tun. Das trifft auch im 21. Jahrhundert in unseren mitteleuropäischen Gefilden auf durchaus gespaltene Ansichten. Die Umschreibung für den Sex klingt nicht so blumig wie bei 'Wochenend und Sonnenschein', sondern wird durch die konkrete Benennung der Schwangerschaft als Szenario völlig unmissverständlich umrissen. Interessant ist auch, dass der Sex im öffentlichen Raum stattfindet. Jenen Umstand mag ein Teil der Bevölkerung auch gegenwärtig noch höchst anstößig finden (und es kann mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden).
Die Beschreibung der Hochzeit ist bei näherer Betrachtung ebenfalls durchaus gewagt, wird doch der Pfarrer (bzw. seine Religion) ziemlich deutlich verhöhnt.
Und der Pastor hielt so schöne fromme Reden,
und er sprach auch was von Jungfrau rein und klar,
denn er hat ja nischt jewußt
von dem Abend im Aujust,
weil er damals nich dabeijewesen war.
Die Kritik in der Sache ist absolut berechtigt, schließlich war die Kein-Sex-vor-der-Ehe-Vorgabe schon damals anachronistisch. Noch interessanter ist die Betrachtung der Rollenverteilung, denn diese stellt der männliche Protagonist nicht klassisch dar, sondern betont (als eher schlichter Charakter mutmaßlich eher unabsichtlich) die emanzipatorischen Eigenschaften von Emma. Zwar geht die erste Initiative von ihm aus, doch schon am See hat sie klar das Zepter in der Hand. In ihrer späteren Beziehung ist aus seiner Perspektive ebenfalls sie die dominante Person - schließlich müsse er die Windeln wechseln, weil sie sich angeblich dafür zu schade wäre.
Ach, der Junge der war toll,
alle Windeln macht er voll,
und ich stand und spül die dreckjen Dinger aus,
denn die Emma meente glatt,
das sie das nich nötig hat.
Dieser Teil ist etwas unglaubwürdig und hätte einer Gegendarstellung bedurft (es wäre zu schön, gäbe es das Lied noch einmal aus Emmas Perspektive). Besonders interessant wird es, als er von den Beziehungsstreitigkeiten berichtet. Am Streit scheinen beide Schuld zu haben, doch die häusliche Gewalt geht von Emma aus.
[...]der Emma schwoll janz fürchterlich der Kamm.
Und sie haute jeden Topp,
Kurz und kleen uff meinem Kopp, (aua)
meine Birne wurde weich wie'n Jummischwamm.
Seine Reaktion auf die verkorkste, gewalttätige Ehe ist dann doch sehr einfältig. Heimlich eine Geliebte zu haben statt sich scheiden zu lassen, gibt der Charakterstudie eine beachtliche Tiefe (für solch ein Schenkelklopferlied).
Voll Verzweiflung schafft ich dann
mir ne andre Freundin an,
doch die Emma hat's natürlich rausjekriegt;
Dieses leider häufig anzutreffende Beziehungsdrama wird hinweg berlinert, sodass auch die tragischen Umstände im Kontext eher zwanghaft komisch wirken. Ein Bruch mit der Komik wäre für die Zeit allerdings doch allzu seltsam gewesen. Das Mitleid hat trotzdem ganz klar er auf seiner Seite, denn obwohl sie (laut seiner Aussage) diejenige ist, die ihn schlägt, ist am Ende er aufgrund seiner unüberlegten Reaktion derjenige, der durch die ihm auferlegten Unterhaltszahlungen als der alleinige Bestrafte zurückbleibt (gut, das schwierige Kind bleibt bei ihr, das kann auch als Strafe empfunden werden). Der Verweis darauf, dass sie „natürlich“ die Affäre aufgedeckt hat, zeigt ihn ein weiteres Mal als den eher schlichten Typen, wohingegen ihr eine Intelligenz zugesprochen wird, die ganz klar seiner überlegen ist.

Das Lied bietet am Ende nur eine Trotzreaktion, aber keine Einsicht in die offensichtlichen Fehler. Das passt natürlich sehr gut zum in sechs Minuten mühevoll aufgebauten Bild des einfältigen, schlichten Charakters. Vorher, beim Gerichtsverfahren, stoßen Rollenklischees und seine Realität aufeinander.
Und ich schimpfte die verfluchte Krumme Lanke
Und dann wurde ick als schuld'jer Teil erklärt.
Obwohl sie die Initiative ergriff, muss er die Verantwortung übernehmen. Der Subtext erzählt allerdings den Umstand mit, dass sie sich vor Gericht „natürlich“ wieder schlauer angestellt hat und er in seiner trotteligen Art kein Recht bekommen konnte, obwohl er es verdient haben könnte.

Dieses Werk bietet bei Lichte betrachtet viel beachtlichen Stoff zur gesellschaftlichen Entwicklung in den ersten Jahren nach dem I. Weltkrieg, ob beabsichtigt oder nicht. Ein Lied von 1923, mit Spontansex in der Öffentlichkeit, deutlicher Religionskritik, und einem Mann als Opfer häuslicher Gewalt, finde ich beachtlich. Fast einhundert Jahre später ist es natürlich schwer möglich sich in die wahren Intentionen und Anregungen für den Text hinein zu versetzen, doch dürften die Gesellschaftskritik den damaligen HörerInnen ebenfalls nicht entgangen sein.



Vor zwei Jahren im August
habe ich noch nicht jewußt,
daß ich heute Klagelieder singen muß.
Damals hat ich, grad entfernt,
erst die Emma kennjelernt,
ach, und heute is schon mit der Liebe Schluß.
In 'nem Grunewaldlokal
sah ich sie das erste mal,
sie trank Kaffee und aß Liebesknochen zu;
und ich schlängelte mich ran,
und wir fing'n zu meckern an,
und um achte sagten wir schon beede Du.
Und dann saß ich mit der Emma uff der Banke,
über uns da sang so schmelzend ein Pirol.
Unter uns da lag so still die Krumme Lanke,
neben uns aß eener Wurscht mit Sauerkohl.
Grade über zog sich einer an vom Baden,
und wir sah'n ihn noch im Badeanzug gehn.
Und die Emma fragte traut:
"Bist Du ooch so schön jebaut?"
Und dann gab se mir'n Kuß, ach, war det scheen.
Ach, der erste Kuß war schön,
darum blieb's nich bei dem een',
denn een Kuß allein der hat ja nich viel Zweck.
Emma küßte mit Jefühl,
und die Nacht die war so schwül,
und der letzte Zug war sowieso schon weg.
Aber um de Weihnachtszeit
klagt sie leise mir ihr Leid;
und sie weente: "Ach was ist bloß los mit mir?"
Darauf sacht ich: "Au Madame!"
Und jing hin aufs Standesamt
Und dann macht ick schleunigst Hochzeit ooch mit ihr.
Und nu saß ich wieder mit ihr uff 'ner Banke,
und die Orjel ach die hat so schön jetönt.
Und wir dachten beede an de Krumme Lanke
Und die janzen ollen Frauen die hab'n jeweent.
Und der Pastor hielt so schöne fromme Reden,
und er sprach auch was von Jungfrau rein und klar,
denn er hat ja nischt jewußt
von dem Abend im Aujust,
weil er damals nich dabeijewesen war.
Und nun war'n wir Frau und Mann,
und dann kam der Kleene an,
und wir kriechten einen Schreck janz fürchterlich!
Eenen Wasserkopp engro
und de Beene krumm wie'n O
's war so'n richt'ger kleener Krummelankerich.
Ach, der Junge der war toll,
alle Windeln macht er voll,
und ich stand und spül die dreckjen Dinger aus,
denn die Emma meente glatt,
das sie das nich nötig hat.
Und so kam bei uns der erste Streit ins Haus.
Und dann saß ich in der Küche uff der Banke,
und die Windeln hingen rum so wunderschön,
und 'ne Filiale von der Krummen Lanke
macht' der Kleene mir uffs linke Hosenbeen.
Nachts, da konnte keener ruhig von uns schlafen,
denn der Bengel brüllte bis zum Morgen fast;
und da riß uns die Jeduld,
eener gab dem andern Schuld:
"Hättste damals lieber nich den Zug verpaßt."
Seit der Zeit gab's jeden Tach
uns den jrößten Krach,
denn der Emma schwoll janz fürchterlich der Kamm.
Und sie haute jeden Topp,
Kurz und kleen uff meinem Kopp, (aua)
meine Birne wurde weich wie'n Jummischwamm.
Voll Verzweiflung schafft ich dann
mir ne andre Freundin an,
doch die Emma hat's natürlich rausjekriegt;
und sie reichte, wie gemein,
jleich de Scheidungsklage ein.
Und dann kriegten wir 'ne Ladung vors Jericht.
Und nu saß ich wieder mit ihr uff 'ner Banke,
und der Richter hat uns beede dann verhört.
Und ich schimpfte die verfluchte Krumme Lanke
Und dann wurde ick als schuld'jer Teil erklärt.
Nu muß ich für Emma und det Jör bezahlen,
und ich komm mein Leben lang nich mehr zur Ruh.
Das soll mir 'ne Warnung sein,
ich fall nich noch eenmal rein,
ich koof mir Sand und schipp die Krumme Lanke zu.

1 Kommentar :

  1. Vielen Dank. Ich hatte das Lied schon fast vergessen. Ein Klassiker der Berliner Musik aus den 20er Jahren.

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