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Sonntag, 22. Juli 2012

Der Mensch und die Musikkonserve

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Geschenktip in Zeiten des Spätkapitalismus
Verfügbarkeit von Musik aus der Konserve scheint uns selbstverständlich, genauso wie die Möglichkeit den Konsum nahezu beliebig steuern zu können. Die technische Reproduzierbarkeit von Tonaufnahmen ist schließlich schon seit Ende des 19. Jahrhunderts möglich. Doch war es seinerzeit nicht nur etwas besonderes irgendetwas Aufgenommenes zu hören – es war auch kaum möglich Einfluss auf die Titel zu nehmen. Bis in die 30er gab es nichtmal Radio, und nur vermögendere Menschen hatten Grammophone. Erst ab dann wurden Radios Alltagsgegenstände, allerdings in Deutschland mit dem primären Zweck NS-Propaganda an die Leute zu bringen. Man stelle sich vor, endlich kann man zu Hause Musik hören, und dann kommt ständig diese Propagandascheiße, die man sich mit anhören muss wenn man die Musik hören möchte.

Selbst wenn ein Grammophon verfügbar war, so ist es kaum mit einem Plattenspieler zu vergleichen. Auf eine Seite passte nur ein Lied, und wenn es zu Ende war musste man nicht nur umdrehen, sondern die Antriebsfeder wieder ankurbeln und eine neue Nadel einstecken, denn diese muss nach jedem Lied (!) gewechselt werden. Man stelle sich einen Grammophon-DJ vor – der muss sich wirklich beeilen das zweite Grammophon während eines Liedes rechtzeitig startklar zu machen. Tatsächlich dauerte es bis in die 50er, also eine Zeit die heutzutage Menschen 70+ persönlich erlebt haben, bis es alltagstaugliche Alternativen zu Grammophon und Radio gab. Die Vinylplatte zog in diesem Jahrzehnt in die Haushalte ein. In den 60ern dann Tonband-Technik, also sowohl große Tonbandgeräte als auch die revolutionären Musikkassetten. Es eröffneten sich ganz neue Welten, z.B. mit Wechselachsen für Plattenspieler. Das ist sozusagen Analog-ITunes: Auf die Stange werden übereinander Singles aufgesteckt. Der Plattenspieler spielt dann jeweils eine Seite ab, der Tonarm fährt zurück, die nächste Platte fällt runter und der Tonarm setzt automatisch wieder auf usw. Man konnte so mit legal erworbener Musik Playlisten erstellen, etwas zuvor unmögliches. Durch Kassetten und Tonbänder nahm die Individualisierung des Musikkonsums ihren Lauf und es wurde normal eigene Zusammenstellungen hören zu können – das Zauberwort heißt 'Mixtape'. Die hippe Jungspundgeneration ist sich dem wahrscheinlich garnicht so recht bewusst, aber bis Anfang der 90er waren Schallplatten und Kassetten das Mittel der Wahl. Die CD brauchte über die gesamten 80er einen langen Anlauf, bis auch die Wiedergabegeräte erschwinglich waren und sie sich aufgrund ihrer Praktikabilität durchsetzte.

Heute herrscht scheinbar die totale Verfügbarkeit (ein Trugschluss übrigens, denn nach wie vor ist ein großer Teil aller Aufnahmen nur analog verfügbar. Vor mittlerweile etlichen Jahren hieß es noch so um die 90%. Das mag besser geworden sein, aber auch im Jahr 2012 findet sich vieles nicht im Internet). Es gibt eine unübersichtlich große Menge an Möglichkeiten Musik zu hören. Wir haben z.B. solche werbefinanzierten Dienste wie Spotify – man stelle sich vor, endlich kann man zu Hause in selbstbestimmter Auswahl gratis (fast) alle Musik hören, und dann kommt ständig diese Propagandascheiße, die man sich anhören muss wenn man die Musik hören möchte. Oh, Moment...


Das habe ich schon auf WDR2 und im Supermarkt gehört - ich frage mich wieviel Prozent der Adressaten dem Inhalt gelauscht haben.

Die Frage ist, was macht die allgegenwärtige, individuelle Verfügbarkeit mit uns und mit den Künstlern? Es ist nichts besonderes mehr ein Lied zu hören, ein Album zu hören. Weil es nichts besonderes mehr ist machen es die Menschen auch seltener, glaube ich zumindest. Wie lange hören die Menschen pro Tag bewusst Musik, also ohne Nebenbei-Radio-Gedudel und x-beliebige-Playlisten? Ich wage zu behaupten, im Schnitt nicht länger als ein paar Minuten, höchstens.

Wir haben die Möglichkeit auf eine unfassbare Menge an Musik aus den letzten 100 Jahren zurückzugreifen – man bräuchte mehrere Leben um alles hören zu können, selbst wenn man damit 24h/Tag beschäftigt wäre – aber wir nutzen sie immer weniger. Mir scheint als tönt Musik immer mehr als zivilisatorisches Dauerrauschen durch unseren Alltag, doch Zeit sich bewusst anzuhören was der/die Künstler ausdrücken möchte nehmen sich nur verhältnismäßig wenige Menschen. Das schürt unser Entlohnungsdilemma. Immer mehr Künstler können Dank der digitalen Möglichkeiten ihre Musik veröffentlichen, doch je mehr es tun, desto unübersichtlicher wird die Menge an verfügbarem Kulturgut und entwertet es für viele Menschen dadurch noch weiter, obwohl bereits die bloße Allgegenwart von Musik selbige entwertet. Weil die Dauerberieselung als Überangebot wahrgenommen werden kann sinkt wohl die Bereitschaft bei vielen Menschen bestimmte Künstler besonders zu unterstützen. Beliebigkeit ist der Feind der Kunst. Doch wer nicht beliebig, sondern eigen ist findet nicht im Gedudel statt und braucht aufmerksame Hörer, welche zunehmend schwieriger zu finden sind, wage ich zu behaupten.

Deswegen möchte ich dafür plädieren – ganz gleich welches Medium man bevorzugt – sich mehr Zeit zu nehmen und guten, innovativen Musikern ganz in Ruhe zuzuhören ohne dabei etwas anderes zu machen. Wer das vernachlässigt hat wird dann (hoffentlich) merken, dass es einen Mehrwert gibt, der nur existiert wenn man zuhört, egal ob Grammophon oder Spotify.

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