Mittwoch, 4. November 2015
Bernd Begemann & Die Befreiung - Eine kurze Liste mit Forderungen
Es nährt Befürchtungen, wenn Musikschaffende vier Jahre lang kein neues Album zustande bringen. Sind sie am Ende ihrer Kreativität? Gibt es nichts mehr zu sagen? Bernd Begemann & Die Befreiung scheinen es glücklicherweise nur aufgestaut zu haben, sodass uns das neue Album Eine kurze Liste mit Forderungen mit 28 Liedern in gut 79 Minuten etwas überfordert. In einer Zeit, in der die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne auf sechs Vine-Sekunden zusammengeschrumpft ist, mag dieses Opus summum für weite Teile der Bevölkerung schwer verdaulich sein. Es ist nicht nur der beachtliche Umfang (des Albums!), der für Schwierigkeiten sorgt, sondern auch Herrn Begemanns Kraut und Rüben-Liedersammlung. Er gönnt dem Publikum keinen roten Faden, keine instrumentale Verschnaufpause und kaum ein Lied, das mal eben ganz nebenbei laufen kann und trotzdem verstanden wird. Wer seinen Schlager lieber schlicht und hip mag, ist mit Wanda besser bedient.
Trotz der natürlich sehr vordergründigen Stimme Begemanns, ist doch auffällig wie häufig liebliche Chöre im Hintergrund zum Einsatz kommen. In Kombination mit der oftmals hellen Instrumentierung erinnern diese schönen Harmonien übers Album verteilt manchmal an das Beach Boys Meisterwerk Pet Sounds. Der Vergleich ist natürlich etwas sehr hoch gehängt, keine Frage, aber die nerdige Auseinandersetzung der Band mit den Arrangements ist deutlich hörbar.
Die umfangreichen Facetten der Begemannschen Textkunst sind grob umrissen mit glücklicher und unglücklicher Zweierbeziehung, Probleme von Eltern, Hamburgs Gentrifizierung, Prekariat, soziologisch wertvolle Beobachtungen, sowie das mehr oder weniger abgründige Sammelsurium im Ordner Sonstiges.
Das Pärchen ist nicht nur bei Christiane Rösinger ein steter Quell der Inspiration, auch Bernd schöpft das Thema mannigfaltig aus. Knapp die Hälfte des Albums ist mit Beziehungsproblematiken beladen, so zum Beispiel 'Liebling, wir haben größere Probleme als uns', das wie eine Fortsetzung von 'Zweimal 2. Wahl' wirkt und den ansonsten gestörten Zusammenhalt aufgrund der misslichen monetären Lage beschwört. Wo wir schon bei Déjà-vus sind, 'Sie war entschlossen' ist inhaltlich eine Reinkarnation des wundervollen Liedes 'Du wirst mein Süden sein' vom Vorgängeralbum Wilde Brombeeren, nur in düsterer. Apropos Dunkelheit, 'Neulich auf der Orgie' bietet eine plastische Beschreibung eines klaren Momentes der Selbsterkenntnis einer missglückten Sinnsuche, verpackt in für die inhaltlichen Umstände recht sanften Tönen.
Sehr positiv überrascht 'Sie fuhr einen lila Twingo', das wohl eine 90er Jahre Erinnerung vertont und wie auch die zuvor erwähnten Stücke zur Fraktion der Zwischenmenschlichkeiten gehört. Überraschend deshalb, weil es bereits eine Solo-Liveversion zu sehen gab, und diese eher weniger Potential für das Lied erhoffen ließ. Die Studioversion ist im Gegensatz dazu ganz wunderbar. Solche Unterschiede sind selten, aber besser so als in die andere Richtung. Es wird hier das Thema des Gefangenseins aufgenommen, das sich über diverse Stücke der Platte erstreckt. Interessanterweise hängen die drei auf dem Album folgenden Lieder alle zusammen. 'Weil du suchst weil du kämpfst' nimmt äußerst optimistisch das Gefangenenthema und den Ausbruch daraus auf. 'Die Glücklichen' besingt den gelungenen Ausbruch, und in 'Jeden Abend sagst du was' wird das erreichte Glück wieder zerstört durch überzogene Erwartungen.
Positive Überraschung Nr. 2 ist 'Es klappt grad nicht mit dem Fahrrad'. Auch dieses Lied kam live bisher eher so mäßig, aber die Studioversion rettet die Idee. Damit haben wir die Beziehungsecke verlassen, und sind in der Abteilung Kinder, Gentrifizierung & Prekäres. Hamburg darf freilich nicht fehlen, und wird würdig in 'St. Pauli hat uns ausgespuckt' vertont. Das scheint ihn (verständlicherweise) sehr zu beschäftigen, denn schon auf Wilde Brombeeren waren mit 'Slums von Eppendorf' und 'Teil der lebendigen Stadtteilkultur' gleich zwei Lieder zur Gentrifizierung. Aber auch wenn Wiederholung droht, alle drei Lieder sind textlich ganz wunderbar und haben zweifellos ihre Berechtigung.
Bei Geldthemen hat das Album nur Pessimismus im Angebot, treffend vertont im düsteren und verbitterten 'Die Reichen haben gewonnen':
Du wirktest abgelenkt als sie dich fragten, wer nun welche Strafe empfängt / dein leerer Blick blieb hängen an Kondomspendern und gepflegten GetränkenEbenfalls auf der Sexseite der Texterei befindet sich das bassig kühle 'Es ist kein Zufall (dass ich neben Dir liege)' über unsympathisch mackerhaftes Aufreißen.
[...] ich bin wirklich gut darin Folgerichtigkeit zu simulieren / Notwendigkeit auszuagierenEtwas sehr mackerhaft wirkt auch 'Deine schwulen Freunde', wobei es wohl mehr ein Protest gegen zuviel Affektiertheit sein soll. Andere menschliche Verkorkstheiten sind Thema in 'Sie hat Regeln'. Der Titel sagt im Grunde schon alles, und das schönste am Lied ist die Zeile „Ihre Liebe ist ergebnisorientiert".
Sehr positiv überrascht 'Sie fuhr einen lila Twingo', das wohl eine 90er Jahre Erinnerung vertont und wie auch die zuvor erwähnten Stücke zur Fraktion der Zwischenmenschlichkeiten gehört. Überraschend deshalb, weil es bereits eine Solo-Liveversion zu sehen gab, und diese eher weniger Potential für das Lied erhoffen ließ. Die Studioversion ist im Gegensatz dazu ganz wunderbar. Solche Unterschiede sind selten, aber besser so als in die andere Richtung. Es wird hier das Thema des Gefangenseins aufgenommen, das sich über diverse Stücke der Platte erstreckt. Interessanterweise hängen die drei auf dem Album folgenden Lieder alle zusammen. 'Weil du suchst weil du kämpfst' nimmt äußerst optimistisch das Gefangenenthema und den Ausbruch daraus auf. 'Die Glücklichen' besingt den gelungenen Ausbruch, und in 'Jeden Abend sagst du was' wird das erreichte Glück wieder zerstört durch überzogene Erwartungen.
Positive Überraschung Nr. 2 ist 'Es klappt grad nicht mit dem Fahrrad'. Auch dieses Lied kam live bisher eher so mäßig, aber die Studioversion rettet die Idee. Damit haben wir die Beziehungsecke verlassen, und sind in der Abteilung Kinder, Gentrifizierung & Prekäres. Hamburg darf freilich nicht fehlen, und wird würdig in 'St. Pauli hat uns ausgespuckt' vertont. Das scheint ihn (verständlicherweise) sehr zu beschäftigen, denn schon auf Wilde Brombeeren waren mit 'Slums von Eppendorf' und 'Teil der lebendigen Stadtteilkultur' gleich zwei Lieder zur Gentrifizierung. Aber auch wenn Wiederholung droht, alle drei Lieder sind textlich ganz wunderbar und haben zweifellos ihre Berechtigung.
Bei Geldthemen hat das Album nur Pessimismus im Angebot, treffend vertont im düsteren und verbitterten 'Die Reichen haben gewonnen':
Du darfst sie massieren / ihrem Vortrag zuhören / applaudieren
Die Reichen haben gewonnen
Ein Großraumbüro braucht Füllmaterial / bewirb Dich doch mal
Die Reichen haben gewonnen
Seit 1989 können wir ihnen nicht mehr drohen
mit einem bösen Bruder der niemals kommt
Die Reichen haben gewonnen
Jeder Tag monochrom mit diesem Stockholmsyndrom
„Chef, was kann ich noch für sie tun ...?"
Die Reichen haben gewonnen
Gib Dein Bestes für das Schlechteste
sei dankbar für jeden kleinen Scheiß
Die Reichen haben gewonnen
Die allseits verlangte Unterordnung für den finanziellen Erfolg legt den Grundstein für zwei neue kleine Begemann-Hits. Da wäre einerseits 'Unoptimiert', das ganz wunderbar vor sich hin bobdylant, inklusive schönem Chor und spontanen Sprecheinlagen. Dieses großartige Pamphlet für die Individualität geht Hand in Hand mit dem ähnlich wunderbaren 'Mehr als Erfolg (brauche ich das Gefühl, Euch weiterhin alle Scheiße finden zu dürfen).' Im Grunde braucht es nur den Liedtitel, damit ist wohl alles Wesentliche gesagt.
Wenn wir an dieser Stelle schon beim Thema Hits sind, muss unbedingt 'Fällt mir schwer zu glauben, dass du schüchtern bist' erwähnt werden. Hier liegt es allerdings mehr an der sehr ohrwurmig arrangierten Musik, wobei gerade bei diesem Text der Drang jenem nachdrücklich zuzustimmen groß ist. Große Städte sind voll von extrovertierten Menschen, wirklich introvertierte dieser Spezies sind rar. Die persönliche Wahrnehmung scheint bei vielen der Variante A allerdings eine gänzlich andere zu sein. Das wird viel zu selten zurecht gerückt. An dieser Stelle muss Herrn Begemann gedankt werden, zumal er wirklich nicht zu der Gattung introvertierter Menschen gehört.
Fällt mir schwer zu glauben, dass du schüchtern bistweil du ungefragt auf meienm Schenkel sitztweil du links und rechtsmit Jungs und Mädchen küsstfällt mir schwer zu glauben, dass du schüchtern bist
Was bleibt, ist die Obskuritätenecke. Bei 28 Liedern findet sich so einiges an kryptischen, sich nicht als Textidee aufdrängenden Ergüssen. Da wäre das Treffen mit einem zwielichtigen Menschen im Industriegebiet zwecks Pornodreh und der Frage, ob wohl die Bilder im Netz landen ('Die stählernden Stufen herab'). 'Nazi Tattoo Papa' ist eine prima Comedian Harmonists-Vertonung der Tattoos, die mal bereut werden könnten-Problematik. 'Mein Powertier ist ein Gnu' erinnert eher an einen Griff in den Papierkorb von Funny van Dannen. Einerseits mag nach Genuss des Liedes der Band eine etwas strengere Endauswahl für Alben empfohlen werden, andererseits übt es ein wenig den Funny van Dannen-Reiz aus, und wäre in einem anderen Kontext (Funny van Dannen-Album) eventuell sogar ein Hitchen. Wer weiß, vielleicht kann es ihm noch verkauft werden.
Das interessanteste unter den Prädikat Besonders Wertvoll-Liedern ist 'Mein eigenes Leben entführte mich'. Hier kommt zum wiederholten Male das Gefangenenthema zur Sprache, oder besser gesagt zum Sprechgesang. Das Gefühl sein Leben nicht in der eigenen Hand zu haben, wird in den Kontext einer Entführung durch das Leben selbst gesetzt. So schön abstrakt ist das Album selten, aber zugegebenermaßen wäre dieses Level auf Albumlänge schwer zu ertragen.
Auf dem Weg zur Türentdeckte ich eine Broschüremit dem Titel:„Sie fragen sich, was von Ihnenerwartet wird!"blätterte darin ein bisschenund stieß mir das Knie an einemTischchendas falsch platziert warna wunderbar!sah, das da keine Türklinke waroha ...
Bernd Begemann fasst seinen gesammelten Ärger in 'Ich habe meinen Frieden gemacht' zusammen und schafft es, dass ihm trotz dieser Beteuerung keinerlei Glauben geschenkt werden kann. Da singt ein Mann, der keinen Frieden gemacht hat. Aber das ist auch gut so, denn ansonsten würden die 79 Minuten auf sehr wenige Lieder zusammenschrumpfen.
Ich habe meinen Frieden gemacht mit den Dinkelkeksmamas vom Spielplatzund ihrem Hass, weil ich wage meiner Tochter etwas leckeres zu gebenDie leiden an meiner Uneinsichtigkeit
Ich habe meinen Frieden gemacht mit den Leuten, die mir nicht zuhörenund die mich aktiv ignorierendie verstehen wahrscheinlich nicht mal die Sachen, die sie hören
Zum Schluss noch ein Wort zu 'Komm zurück, Olli Schulz' – besser als alle ehemaligen Hamburger*innen zurück zu holen, wäre es einfach ihnen nach Berlin zu folgen und Hamburg dem Schnöselvolk zu überlassen. Diese Stadt ist verloren. Olli Schulz sollte erst zurückkehren, wenn er selbst zum Schnöselvolk gehört. Bernd Begemann wird voraussichtlich nie dazu gehören, also kann er auch bedenkenlos übersiedeln. Komm nach Berlin. Ja, nicht nur Bernd Begemann kann Forderungen stellen.
Ein Viertel des Albums viel unter den Tisch, aber jeder hörende Mensch sollte sich sowieso selbst von den Begemannschen Klängen überzeugen. Es ist kein Konsenspop, sondern, im liebevollsten Sinne des Wortes gemeint, Geschmackssache. Das vermag mittlerweile traurigerweise ein großer Verdienst zu sein, und umso schöner ist es dermaßen viele Lieder zu hören und sich die persönlichen Lieblingsperlen aus dem Sammelsurium zu picken. Wer das nicht mag, kann ja gerne Gisbert zu Knyphausen hören. Allen anderen sei das Album empfohlen, wie auch jedes andere Album aus Bernd Begemanns Feder. Begemann is for Lovers – das war immer so und wird immer so bleiben.
Eine kurze Liste mit Forderungen erscheint am 18. Dezember 2015.
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